Jugendkult/ur
Wenn wir, die jugendlichen Gammler der späten 80er, den verkaterten Sonntag in meinem noch real existierenden Kinderzimmer verbrachten, saßen wir oft einfach auf dem Boden, jeder für sich, und – heute vielleicht kaum vorstellbar – lasen still vor uns hin. Von Kopfschmerzen geplagt, vom ZDF-Fernsehgarten genervt, blieb uns nur das Seitenblättern in Schonhaltung, während die letzte Nacht noch in unseren Ohren rauschte. Ich versuchte mich an Büchern, die meine Eltern entsorgt hatten. Simmel, Däniken oder C. W. Ceram hatten in meinen Regalen Asyl gefunden. Am Ende schaute ich mir doch nur die ekligen Giftspinnen in Brehms Tierleben an. Mein Kumpel dagegen blätterte in meinen spex-Heften und schüttelte ungläubig den Kopf „Von ungefähr neunundneunzig Prozent der Bands hier drin hab ich noch nie gehört!“ klagte er lachend. Auch die Plattenbesprechungen fand er offenbar lustig. „Ich versteh kein Wort!“ Der eigentliche Witz war: mir ging es nicht anders. Die Texte waren wahrlich starker Tobak und in einer Zeit ohne Internet blieb nur der Gang zum gutsortierten Plattenladen, um die genannten Bands probezuhören, bis der Besitzer einen argwöhnisch von der Seite anguckte. Am Ende nahm man eine der obskuren Scheiben mit nach Hause, wohlwissend, dass kein Freund je den Kauf verstehen, geschweige denn diese auf einer Party hören würde. Grandiose bis schräge Alben, z.B. von Stump (Buffalo), MC 900 FT Jesus (Buried at Sea), Bohren & der Club of Gore (Prowler) oder Some more Crime (Der Tod ist ein Meister aus Deutschland), welche tatsächlich Paul Celan mit Slayer vereinten, fanden so den Weg in meine Plattensammlung. So wuchs mir die Zeitschrift langsam ans Herz.
Das ewige Fanzine
Stets gefiel mir der stringente Aufbau, sowohl inhaltlich als auch gestalterisch. Neben dem Spiegel zählte sie für mich zu den Magazinen, die durch die spätere Umstellung auf 4/4-farbig (CMYK) deutlich an Reiz verloren haben. Bei der spex liebte ich besonders den durch die Redaktion ausgelebten, subjektiv geprägten Fanzine-Charakter. Obgleich sie nie der Schnodderigkeit irgendwelcher Punkrock-Formate aus dem Copyshop ein Abbild sein wollte, waren die Hefte – zumindestens bis zur Jahrtausendwende – ein ernstzunehmender, beeinflussender Bestandteil der deutschen Untergrundkultur. Relativ unkonventionell, unkommerziell, aber herrlich arrogant im Zelebrieren des redaktionseigenen Musikgeschmacks. Die Hefte zum Jahreswechsel listeten die Favoriten der einzelnen Redakteure auf, dadurch wurden diese für viele Leser sozusagen zu Leitfiguren, an denen man seinen eigenen Musikgeschmack überprüfte und ausrichtete. Das oft unterstellte Intellektuellengehabe traf m.E. jedoch nicht wirklich zu, da eigentlich alle Beiträge als Kommentare, also persönliche Diskursbeiträge zu verstehen waren – ohne dass sie einen Anspruch auf Richtigkeit oder Allgemeingültigkeit erhoben. Die spießige, akademische Borniertheit kannte ich viel eher aus dem Musikexpress, wo außerdem in gefühlt jeder Ausgabe ein Artikel über Heinz-Rudolf Kunze lauerte. Dennoch hatten es die spex’schen Texte in sich. Verkopft wäre manchmal die passende Umschreibung gewesen. Mit der Zeit stellte sich allerdings eine gewisse Lesekompetenz ein. Plötzlich verstand man mehr und mehr von den nicht-wissenschaftlichen, doch analytisch weitreichenden Beiträgen zur Popkultur. Selbst halbseitige Schachtelsätze von Diedrich Diederichsen begann ich irgendwann mit Genuss zu konsumieren.
Kulturhauptstadt Köln
Als gebürtiger Kölner bin ich selbstverständlich von vorherein durch meine Befangenheit disqualifiziert, dennoch wird niemand ernsthaft bestreiten, dass Köln in punkto Kultur und Medien ein ganz besonderes Fleckchen ist. Köln lebt. Die Stadt atmet den Charme einer internationalen Metropole, mit allen Vor- und Nachteilen. Ob der eigenwillige Charakter nun durch die römische Historie, die Kirche, den rheinländischen Frohsinn oder die LGBTQ-Community geprägt wurde, sei dahingestellt. Ohne Frage aber ist und war Kölle, besonders in den 70er und 80er Jahren, ein kultureller Schmelztiegel, dessen künstlerischer Output gar nicht mit dem Düsseldorfs verglichen werden muss. Er war einfach anders – nicht etwa besser oder schlechter. Anders war auch das “kölsche” Musik-Magazin, das fünf Freunde („Herausgeberkollektiv“) im Jahre 1980 auf den Weg brachten. Ausgestattet mit einem maximal heterogenen Redaktionsteam welches maximale Freiheiten genoss, besetzten sie einen schwer definierbaren Nischenmarkt aka Underground, den die üblichen Zeitschriften der Großverlage mangels Potential bislang ignoriert hatten. Die spex-Gründer allerdings hatten offenbar direkten Kontakt zur Szene (sic!), in Deutschland und jenseits der Grenzen und Weltmeere. Sie wussten: Zu Beginn der Dekade braute sich etwas zusammen, dass alle bisherigen Maßstäbe sprengen würden. Punk war nur die Vorhut gewesen, jetzt standen New Wave, postmoderner Pop, Avantgarde und HipHop bereit, um den Markt zu erobern. Während altgediente Musikjournalisten noch über Krautrock referierten, oder dem Rock der 68er nachtrauerten, spürte das junge Kölner Team beispielsweise Strömungen auf, welche sich später als sog. Neue Deutsche Welle vereinten, oder sie schrieben frech über kommerzielle Trends, die konservative Magazine am liebsten totschwiegen. Genannt sei hier nur die erste redaktionelle Erwähnung einer gewissen Madonna Louise Ciccone in Deutschland oder, zum nächsten Dekadenwechsel, die ernsthafte Auseinandersetzung mit Techno/House bzw. Independent Rock (Grunge). Diese Unabhängigkeit von der Musikindustrie, der große Anteil von Herausgebern im Redaktionsteam (sozusagen „inhabergeführt“) sowie die parteipolitische Neutralität in den ersten zwei Jahrzehnten, machten die spex zu einem besonderen Lesevergnügen. Jedes noch so kleine Mikrogenre, jede in düsteren Kellerräumen produzierende Einmannband hatte eine reale Chance direkt neben den Größen des Undergrounds/Pops besprochen oder interviewt zu werden. Die später beigelegten CD-ROMs/CDs trieben dies auf die Spitze. Auf ihnen fand der interessierte Leser Hörproben, wodurch skurrile Acts auch dem verwegensten Landei zugänglich wurden. Woher sonst würde ich Meinrad Jungblut, Señor Coconut oder Schlammpeitziger (alle: spex CD Nr. 01/2000) kennen?
Auch im theoretischen Feld überzeugte das Magazin. Kritische Essays zur Populärkultur, zur gesellschaftlichen Situation und oft „wiesengrundige“ Beiträge über philosophische Themen gab es regelmäßig – dem gegenüber standen Interviews, bei denen wiederkehrend Nebensächlichkeiten im Fokus standen. Diese Gespräche bedurften keines Kommentars. Sie sprachen für sich und sagten mehr über die Künstler und ihr Werk aus, als die zeitgleich veröffentlichten Informationen der Plattenlabel. Legendär sind Interviews mit Mark E. Smith, oder das wahnwitzige Gespräch mit Kim Fowley, ebenso ein neueres Treffen mit Lady Gaga in Duisburg (!). Trotz des vorherrschenden Studentenjargons der spex lohnte es, sich mit den Texten näher auseinanderzusetzen, denn oft gelang es ihnen im allgemeinen Diskurs der Zeit interessante Akzente zu setzen, ohne dem jeweiligen Zeitgeist hörig zu sein. In Erinnerung geblieben ist mir z.B. eine transkribierte Diskussion zwischen Trini Trimpop, Ale Sexfeind, Markus Repkow, Hans Nieswandt, Clara Drechsler, Ralf Niemczyk, Christian Storms und Mark Terkessidis über die Themen Punk und Rechtsrock.
pop will eat itself
Der Rest ist, wie so oft, schnell erzählt. Der Verkauf an einen österreichischen Verlag, der Umzug nach Berlin, der erneute Verkauf, Mainstreamavancen, das Internet … All das tat dem Magazin nicht gerade gut. Die schlaumeierischen Marketingideen, bei einer untergrundaffinen Publikation „Mehrwert generieren“ zu wollen, muten geradezu absurd an. Die Zeitschrift wurde dicker, voll von berlin’esquer Kunst und Mode (!) wirkte sie irgendwann nur noch uffjedunsen – träge – und alt. Da halfen auch Farben und Haptik nicht viel. Der biedere Versuch bis zuletzt mit einer eingeklebten CD im Zeitalter des Internets punkten zu wollen, musste scheitern. Längst war die spex ihrer Funktion als Navigationsgerät und Schatzsucher im zwielichten Dickicht der unschöneren Künste durch bessere (sensiblere, aktuellere) Onlineangebote beraubt worden. Sie wurde zu dem, was sie nie sein wollte und starb einen langsamen, stillen Tod. Dieses Jahr, nach 384 Ausgaben und 38 Jahren, nehmen wir endgültig Abschied.
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Text: © Hans-Christian Wichert
Titelbild „Fahndungsplakat spex“ © H.C.Wichert
Photo „spex – Das Buch“ © H.C.Wichert
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