Ästhetik [1] – Kritik des Vorhandenen aus dem Horizont des Möglichen


Alles sieht heute gut aus.

Endlich – so meint man – hat der Mensch in einer hochindustrialisierten Gesellschaft die freudlose Herrschaft von Rationalismus und Vernunft überwunden, sich gegen das Diktat des Utilitarismus aufgelehnt, um sich mit der endgültigen Transformation zur formvollendeten Informationsgesellschaft ganz den schönen Dingen zu widmen, vor allem dem schönsten von allen, sich selbst. Forderte Friedrich Schiller ab 1793 ganz im Kantschen Sinne noch eine „ästhetische Erziehung des Menschens“, mit der er ihn, den Menschen, durch die Schönheit (der Kunst) zur Freiheit leiten wollte, so ist dieser später als Appell an die von Arbeitsalltag und faktischer Aufklärung versklavte Gesellschaft begriffene Versuch, die Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit zu überwinden, heutzutage längst Schnee von gestern – dahingeschmolzen in der einseitigen Hochglanzoptik der Gegenwart, in der mittlerweile nur noch Emotionen, ausschließlich Legenden statt Fakten zählen. Die von Schiller eigentlich gemeinte bürgerliche Hochkultur der Kunst, ein Ensemble aus gestalterischem Schaffen, Musik, Theater, Oper und Literatur, wird heute lediglich von einem elitären Kreis Interessierter zelebriert, für den Rest findet dies höchstens auf youtube oder als podcast („live aus Bayreuth“) statt, und auf amazon („Goethes ‚Faust‘ auf 3 CDs“) vergeben Leser zwei Sterne für Weltliteratur. Gleichwohl dient das kulturelle Erbe in seiner gesamten künstlerischen Breite, durch diese Entwertung enttabuisiert, als nimmerendener Schatz, aus dem man sich schamlos bedienen kann.

Schillers Hochkultur hat heute einen schwereren Stand als im ausgehenden 18. Jahrhundert. Sie wurde längst abgelöst durch eine leicht konsumierbare Populärkultur, eine hochästhetische Oberflächlichkeit, bei der der traditionelle Kunstbegriff völlig in den Hintergrund geraten ist. Durch die technische (Re)Produzierbarkeit mangelt es nicht nur an Kunstfertigkeit und Handwerk, sondern auch das tiefere Verständnis des Schaffens kommt abhanden. Das Wozu beschränkt sich heute kaum mehr auf den Inhalt, es dient der eigenen Erhöhung, für die nicht einmal mehr Eigenes geschaffen werden muss. Ein Klick reicht, um sich mit fremden Federn zu schmücken. Dabei muss das Prinzip des Samplings nicht per se schlecht sein. Oft erwächst aus der ungewöhnlichen Kombination von Inhalt und Zitat ein neues, durchaus künstlerisches Etwas. In der Musik z.B. beweist der HipHop seit den 1970er Jahren eindrucksvoll, wie kreativ das Zitieren sein kann, leider geschieht dies in immer kürzeren Intervallen – HipHop-Künstler der Gegenwart samplen inzwischen schon sich selbst. So fehlt es uns immer mehr an Muße und Zeit, dieses Schaffen für einen Augenblick zu würdigen. In anderen Bereichen ist dieser Moment der Würdigung gänzlich abhanden gekommen. Auf Seiten wie Instagram, Tumblr oder Pinterest reihen sich atemberaubende Bilder endlos aneinander, ohne dass eines davon im Gedächtnis bleibt. Ein Like, ein Abo, ein obligatorischer Kurzkommentar – dann wird weitergescrollt. All diese Schönheit dient der Errichtung bzw. Aufrechterhaltung einer hedonistischen Spaß- und Wohlfühlwelt von äußerst kurzer Halbwertzeit. Der Autor und Regisseur Heinrich Breloer beschrieb die „schöne heile Welt“ mit großer Sorge „Ästhetik allein genügt nicht – nein, eine politische, gesellschaftliche Haltung ist stets vonnöten. Sonst droht Verfall“, und auch wenn man sich dem Kulturpessimismus nicht anschließen mag – es bleibt doch die Sorge, dass Inhalt und Funktion ganz vor dem schönen Äußeren zurücktreten. „Form folgt Funktion – das ist oft missverstanden worden. Form und Funktion sollten Eins sein, verbunden in einer spirituellen Einheit.“ gab schon der große Frank Lloyd Wright zu bedenken. Doch ist der Funktionsbegriff nach nicht einmal einem Jahrhundert zum bloßen Selbstzweck verkümmert.

Text: © Hans-Christian Wichert

Text: © H.C.Wichert, 2018

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