Zum Tode von Charles Aznavour


Hier encore!

Das kulturelle Schaffen der Menschheit gleicht einer Spirale. Alles wiederholt sich. Demnach wird es eines Tages auch wieder eine echte, non-digitale Bohème geben, nachdem die letzte zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Strudel der Kommerzialisierung versunken war. Charles Aznavour besang den Niedergang der verarmten Pariser Künstlerszene Mitte der 1960er Jahre, sein weltbekannter Hit ist allerdings nicht nur als wehmütige Erinnerung zu verstehen, sondern gleichfalls als realistische Schilderung der armseligen Verhältnisse, in denen die Kunstschaffenden freiwillig lebten. Die alten Zeiten waren halt keineswegs besser, nur anders. Umso mehr verwundert es, dass das unscharf definierte Lebensmodell einer Bohème bis heute idealisiert und romantisiert wird – besonders von denen, die niemals ihr doppelhaushälftiges Leben gegen das bettelarme der Künstler vom Montmartre tauschen würden. Überhaupt bietet sich heute ein kritischer Blick auf das an, was die Bohème wirklich war und was sie – angeblich – sein sollte.

Jede Epoche hat ihre eigene Postmoderne, das wussten schon Barbara Tuchmann und Hans Werner Henze, und jede Kulturära hat ihre eigene Bohème, die, in ihrem Selbstverständnis, als künstlerisches Outlaw-Dasein dem althergebrachtem Kulturapparatus die Stirn bietet. Doch, so meine bescheidene Frage, tat sie das jemals wirklich? Im Gegensatz zur Post-Moderne, welche durch revolutionäre Gedanken, philosophische Provokationen, verstörende Kunst-Happenings (z.B. Art Brut), atonale Kakophonien (z.B. Avo Pärt, John Cage, Philip Glass, Terry Riley) oder asymmetrische, fragmentierte Texte (z.B. William S. Burroughs) ihre maximal-mögliche Unabhängigkeit demonstriert/e, war/ist das Schaffen der so genannten Bohème nur selten radikal und frei. Der eigentliche Output dieser war/ist weitestgehend von profaner Natur, meist im Bereich von Auftragsarbeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der große Erfolg einiger weniger Protagonisten sollte nicht über diese Erkenntnis hinwegtäuschen, zumal sich kommerzieller succès (= Reichtum) und Bohème ohnehin laut selbstgewählter Definition gegenseitig ausschließen. Das verklärte Bild einer Bohème wird kaum von dem künstlerischen Schaffenswerk getragen, vielmehr zeigt es das Ideal eines freien, „zigeunerhaften“ (sic!) Lebensstil außerhalb gesellschaftlich akzeptierter Normen, inklusive der damit oft einhergehenden „stolzen Armut“, einem fragwürdigen Drogenkonsum und billigem Wein. Das Dasein selbst ist die Kunst, oder, anders ausgedrückt: die Kunst dient dem Überleben, bzw. der Finanzierung des Lebensstils. Beispiele hierfür bietet die Geschichte zu genüge, gleichzeitig lehrt sie uns, dass es nur selten ein Happy End gab, trotz plötzlichem Durchbruch einiger Künstler. Der eigenartige Mix aus gesellschaftlicher Askese, einer Art sozialem Eremitentum, bei gleichzeitig freier Lebensgestaltung in Hinblick auf Sex, Drugs und Gitanes ohne, ging selten gut aus, selbst für die späteren Millionäre unter ihnen, und erst recht für die „Brotlosen“, von denen wir nie hören oder lesen. Umso erstaunlicher, dass Diogenes von Sinope, Carl Spitzwegs armer Poet oder die bettelarmen Maler von Montmartre, noch immer Gegenstand mystifizierender Schwärmereien durch das zwar kulturgewandte, jedoch gesellschaftlich gefesselte Bürgertum waren, obwohl die meisten von ihnen vermutlich elendig an Lungenentzündungen gestorben sind, sofern sie nicht das Heroin (Jean-Michel Basquiat), Rauchen (Jacques Brel) oder Saufen (Jack Keruoac) hingerafft hat.

La Bohème, la Bohème
On était jeunes, on était fous
La Bohème, la Bohème
Ça ne veut plus rien dire du tout.

Charles Aznavour (1965)

„Wir waren jung, wir waren verrückt. La Bohème, das bedeutet überhaupt nichts [mehr]“ sang Charles Aznavour voller Wehmut, mit bebender Stimme anklagend, und trieb mindestens drei Folgegenerationen des Bildungsbürgertums die Tränen in die Augen. Er, der La Bohème selbst noch vor und nach der Pariser Besetzung erlebt hatte, wusste wovon er sprach. Die Zeit der Unbeschwertheit war endgültig vorbei, denn die Stadt an der Seine wandelte sich unaufhaltsam in eine kommerzielle Metropole bar jedem Charme alter Tage. Ein Thema, dem sich 1958 bereits Jacques Tati mit „Mon Oncle“ angenommen hatte, und dem er auch seinen letzten großen Film, „Playtime“ widmete. Über 10 Jahre dauerte dieses vielstimmige Klagen an. Vermutlich war Peter Sarstedt einer der Letzten, der die Pariser Neureichen miesepetrig dazu aufforderte, ihre „Wurzeln“ ja nicht zu vergessen („Where do you go to“, 1969).

Charles Aznavour hingegen wandte sich wichtigeren Themen zu. Der Liebe zum Beispiel. Der Welt und seinen Menschen. „Ich will jedes Tabu brechen“ sagte er einst und sang offen von Sex, Hass, Vergewaltigung, Homosexualität und Drag Queens, sein Song „Après L’Amour“ wurde gar verboten. Die berühmte Dramaturgie seiner Gesangsauftritte machte ihn außerdem zu einem charaktervollen Schauspieler, auch abseits der Bühnen. Er war ein Komponist, Liedtexter, Botschafter. Aznavour war so viel mehr.

Heute ist er im Alter von 94 Jahren verstorben – Zeit, sein Gesamtwerk zu würdigen, anstatt, wie es leider jeder zweite Pressenachruf zu tun scheint, nur an „La Bohème“ zu erinnern. Dieses ewig Wehmütige überlassen wir doch bitte ganz den zeitgenössischen Popmusikern, die sich dazu offenbar berufen fühlen, zum Beispiel Marius Müller-Westernhagen („Ich will zurück auf die Straße“).


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Text: © Hans-Christian Wichert

Titelbild und Cover der LP „Qui?“: © Barclay Records

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