Ästhetik [3] – Kritik des Vorhandenen aus dem Horizont des Möglichen


Kulturelle Verwahrlosung?

Verwahrlosung ist ein beliebter Kampfbegriff der Berufspessimisten. In einer hochentwickelten Gesellschaft fällt es leicht von Verwahrlosung zu sprechen, sobald man vom high horse herabblickend Entwicklungen ausmacht, die eigene Wertvorstellungen unterschreiten. Politiker z.B. sehen allerorts einen Verfall gesellschaftlicher Normen, die linken beim Trend populistischen Parolen zu folgen, die rechten beim Aufbrechen althergebrachter Moralvorstellungen. Umgekehrt wirft Peter Sloterdijk Politik und Presse „Verwahrlosung“ vor, wenn sie eigene Standards über Bord werfen. Die Kirche erkennt einen Verfall religiöser Werte, die wissenschaftlichen Aufklärer beklagen einen vermehrten Hang zu Mystik.

Ein deutliches Zeichen von Verwahrlosung, welches hier betrachtet werden soll, findet im gesellschaftlichen Umgang mit Kultur statt: Wir leben in einem Zeitalter der Entgrenzung. Was als nationenübergreifende Vernetzung durch Internet und Globalismus positiv begann, hat inzwischen zu einem Auflösen bekannter Grenzen geführt:

Kreatives Schaffen im digitalen Zeitalter

Dass Kulturgut (im traditionellen Sinne) trotz der heute extrem weitreichenden Verfügbarkeit durch Internet, Fernsehen und Radio nur einen kleinen Teil der Gesellschaft, oft latent abfällig als Bildungsbürgertum bezeichnet, erreicht, verwundert. Allerdings ist dies durch ein immer exklusiveres Bündnis mit den Konsumenten selbstverschuldet. Für utopisch hohe Preise, welche real erlebbare Kunst heute kosten soll, hat die Mehrheit der Gesellschaft kaum Verständnis. Ihr stiller Boykott bestraft den Kunstmarkt für seine Austerität in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und schafft damit diesseits der üblichen Kulturschauplätze Raum für Neues, Erschwingliches, für etwas, das für Jedermann zugänglich ist. Virtuelle Kunstprojekte und Netzkunst zeugen von dieser Demokratisierung der Kunst. Enthusiasten sprechen gar von einer „Revolution im Netz“. Doch die virtuellen Revoluzzer treten sich beim Erstürmen der Bastionen unserer Hochkultur kaum die Füße ab. Es wird geplündert und gebrandschatzt.

Auf die Explosion der unbegrenzten Möglichkeiten folgt die Implosion ihrer Beherrschung.

Kurt Weidemann, Typograph und Gestalter

Von einer „Entweihung“ der Hochkultur zu sprechen wäre theatralisch – und doch zutreffend. Betrachten wir das alternative Kulturprogramm der digitalen Masse, welches sich zur einen Hälfte aus dilletantischen Arbeiten, zur anderen Hälfte aus schamlosem Sampling vergangener Epochen zusammensetzt, kann man Manuela Naveau, Künstlerin und Kuratorin der Ars Electronica, nur beipflichten, wenn sie vom „Aufstieg der Amateure“ spricht. In ihrem lesenswerten Buch „Crowd and Art – Kunst und Partizipation im Internet“ beschreibt sie detailliert, wie sich mit dem Siegeszug des Internets alternative Kunstbewegungen entwickelten, an deren Schaffen jeder teilnehmen konnte. Soweit so gut. Allerdings erschuf diese ausgedehnte Partizipation einen kreativen trash, der so lukrativ war, dass er bald zum schalen Kommerz wurde. „Vom Punk zum Mainstream“ betitelt Naveau diese Epoche (2000 bis 2010) einer gescheiterten Kunstrevolution. Als hätte es das nicht schon einmal gegeben – „The Year Punk broke“. Und heute? Urheberrechte, Copyrights, geistige Ideen, sind kaum noch etwas wert. Kultur gilt vielen als Selbstbedienungsladen,

En détail: Kunst in der Werbung

In den 1960er Jahren bereits, sah Herbert Marcuse, im Grunde ein Modernisierer des gesellschaftsphilosophischen Begriffs der Ästhetik gemäß Kant/Schiller, den Ausverkauf der Kunst im Sinne einer Instrumentalisierung des Kunstwerks, damals für politische Zwecke, voraus. Seine „Hegemonie der Populärkultur“ entwickelte sich allerdings in nur wenigen Jahrzehnten zu einem kapitalistischen over-use, bei dem „Kunst im Rahmen der Werbung“ (Geese, Kimpel) verramscht wurde, beispielsweise wenn klassische Musik in Werbespots für Haushaltsmittel zu hören war. Diese Profanisierung des künstlerisch einst mühselig Erschafften war jedoch bis zum Ende des Jahrtausends nur denjenigen vorbehalten, die dies im Auftrag der Konsumindustrie, mit deren üppigen Budgets ausgestattet, auf rechtlich unsicherem Terrain wagen konnten. Der Rückblick offenbart: dieses, nicht wirklich geheime Rezept zur Gewinnmaximierung erschien vielen Werbern als verlockend. Offenbar reichte es aus, jedes x-beliebige Produkt mit einem Zitat aus der Kunstgeschichte zu versehen, und diesem damit erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen, anstatt selbst kreativ zu werden. Vielleicht mahnte Michael Schirner (GGK Düsseldorf) mit seinem kontrovers diskutierten Postulat „Werbung ist Kunst!“ diese Entwicklung vorausschauend an. War dies nicht auch als überspitzt formulierte Erinnerung für die Kollegen zu verstehen, sich auf das eigene werbliche Schaffen zu konzentrieren, diesem zu einem maximalen künstlerischen Level zu verhelfen? Wo sonst lassen sich kreative Outputs, d.h. die Kunsthandwerke von Grafik, Typographie, Text, Photographie und Musik, derart leicht an einen Tisch bringen? Werbung mag in den Augen vieler keine Kunst sein, aber Kunst ist immer maßgeblicher Teil von ihr. Doch sein Ruf verhallte bald im tiefen Tal der wirtschaftlichen Turbulenzen. Kreative wie Schirner & Co, Charles Wilp oder auch Willy Fleckhaus wurden bald aus Konsumentensicht obsolet. Was konnte diese überhaupt noch vor dem Ofen hervorlocken?

Der Opportunismus der Kreativen ist heutzutage kaum zu ertragen. Bis heute sind sperrige Charaktere in der Werbebranche leider nur noch selten zu finden. Erdrosselt von einer allgegenwärtigen Etatabhängigkeit beherrschen Konformismus die meisten kreativen Köpfe, indes ebenso die der Entscheider. Täglich wird gepitcht, präsentiert bis sich die Donnerbalken biegen. Man frohlockt ob der eigenen Ideen, die wirklich fresh und nice sind. Doch was bleibt davon nach endlosen meetings und zeremoniellem jour-fix übrig? Wenig. Meist gar nichts. Werbung, wie Schirners Jägermeister-Motiv („Ich trinke Jägermeister, weil ich das Paket, das ich bei der Post aufgegeben habe, aufgegeben habe“), welches letztlich der GGK den Etat der humorlosen Deutschen Bundespost kostete, ist heute jedenfalls undenkbar. Nun, berechtigt ist in diesem Hinblick auch die Frage nach der Notwendigkeit. Muss Werbung in der heutigen Zeit überhaupt noch einen solch hohen Anspruch haben? Wirkt sie auch so, ohne kreative Radikalität und permanente Erneuerung?


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Text: © Hans-Christian Wichert

Titelbild: © fotolia.com

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