25 Jahre „Child’s View“
1994. Der Zenith war erreicht und überschritten. Die Zeit der unbeschwerten Adoleszenz ging zu Ende. Erst fiel die DDR, mit ihr die Zäune, und damit dann die gesamtdeutschen Jugendkulturen in sich zusammen. Jugendbewegungen, welche trotz ihrer Differenzen Einigkeit über den Eisernen Vorhang hinaus geschaffen hatten, lösten sich, im Osten wie im Westen, in ein ernüchterndes Vakuum auf, denn die Generation Golf wurde erwachsen. Endlich! – dachten wir uns und merkten nicht, wie wir über Nacht zu dem wurden, was unsere Eltern bislang als Feindbilder verkörpert hatten. Deutschland hatte seine spannensten Zeiten hinter sich. Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit vollzogener Wiedervereinigung war alles Herbeigesehnte erreicht. Das strebsame, prosperierende Land, insbesonders der westliche liberale Kapitalismus als gelebter Gegenentwurf zum real existierenden Sozialismus versank in einer neo-bürgerlichen Bräsigkeit und Selbstzufriedenheit. Dieser konnte man sich kaum noch entziehen, auch nicht durch Flucht ins einst aufregende Berlin, das nun keine Insel mehr war, sondern Hauptstadt. In dieser Zeit gab es erste gesellschaftliche Auftrennungen, denen – anders als bisher – keine Generationenkonflikte zu Grunde lagen: Während die einen sich dem post-modernen Anti-Chic von Techno oder Grunge hingaben und sich ggf. gegen Rassismus, gegen Kapitalismus oder für die Natur engagierten, versuchten sich andere an einer Neuauflage der 80er – mitsamt dem altbekannten Konsumrausch, nur auf einem höheren Level. Aus den Poppern waren Yuppies geworden, aus der fetzigen Chipie Jeans schwarze von AJ oder Trussardi. Die Kids der 70er schlossen gerade ihr Studium ab, viele arbeiteten bereits in gutdotierten Jobs. Und das viele Geld musste ja schließlich ausgegeben werden. Zeltdiscos auf Oberhausener Industriebrachen waren von nun an tabu, ebenso irgendwelche Punklöcher, wie das Druckluft und der Ratinger Hof. Man zog es vor, in Bars auf der Rüttenscheider Straße in Essen abzuhängen, um anschließend demonstrativ eine Flasche Schampus im Mudia Art zu köpfen. Noch doofer elitärer ging es in „meinem“ Düsseldorf zu. Wir, die in der Agenturszene gerademal im Akkord Reinzeichnungen kleben durften, verbrachten den Feierabend im Sam’s oder im Checker’s auf der Kö, wo man mitunter Vilim Vasata zuprosten konnte. Freitags lockte das Bhaggi, die Bhagwan-Disco an der Graf-Adolf-Straße. In den Malkasten hingegen wollte man nur, wenn irgendeine bildungsbürger-affine Band von der Kunstakademie auftrat. Wer etwas auf sich hielt, ging regelmäßig teuer essen. In Düsseldorf – wie sollte es anders sein – japanisch. Wenn die Entourage in Schwarz zum Daitokai dackelte, machte man auf der Ratinger einen Bogen um die biersaufenden Altpunks und hoffte keine rheinische Zweitausgabe von Kurt Cobain aus alten Schultagen zu treffen. Bekam man keinen Platz, um die Suppe für 40 DM auf asketischen Holzbänken zu löffeln, wurden aus Frust Austern vor dem Fischhaus geschlürft. Pathetic! Doch all dieser Popanz hatte auch etwas Gutes inne, nämlich die wirklich schöne, „neue“ Musik der frühen 90er Jahre, welche all diese Selbstinszenierung begleitete. Ein fremdartiger, urban-weltmännisch klingender Sound, der alles umspannte und das Gesamte zusammenhielt.
Eine befreundete Architekturstudentin aus gutem Hause war die Erste, die mir davon berichtete. Deee-Lite (Groove is in the Heart) und Dimitri from Paris wären „der neue Sound“. Sie nahm mir ein Tape mit In Pursuit of the 13th Note von Galliano auf, eine Londoner Acid-Jazz-Band, von der sie behauptete, der Designer John Galliano stecke dahinter. Damit begann insgeheim ein musikalisches Wettrüsten, bei dem man sich gegenseitig stolz die neuesten CDs von irgendwelchen obskuren Bands aus aller Welt präsentierte. Angefixt durch leichter verdauliche Tracks von Stereolab, oder Jamiroquai mit ihrem umweltbewussten, aber Ferrari-fahrenden Frontmann Jay Kay, wurden bald kompliziertere Genres alter Zeiten wiederentdeckt. Plötzlich erklangen in Bars, Autos und auf Parties wieder Stan Getz, Astrud Gilberto, Miles Davis, Gunter Hampel und sogar Herb Alpert. Der sommerliche Groove dieser Musik wurde recht zutreffend unter dem Sammelbegriff des Easy Listening zusammengefasst, allerdings waren die (Neu)Erscheinungen des Nu Jazz, Jazz Funk, Fusion Jazz und die jener Retro-Bands, welche sich dem Samba oder Bossa Nova widmeten, oft nicht gerade leichtgängig. Evergreens von Jazzfunk-Pionieren, wie den brasilianischen Azymuth oder Mezzoforte aus Island, gingen auf Parties immer, wer aber darauf beharrte Doldingers Passport zu hören, fand seine Gäste bald darauf in der Küche wieder. In Düsseldorf war man zwar sperrige Musik seit Krautrockzeiten (siehe La Düsseldorf, Neu!, Kraftwerk in ihrer Urform) gewöhnt, doch die elitärere Sucht nach (zurecht?) unbekannten Exoten ging dann doch vielen Revival-Hedonisten zu weit.
Erlösung brachte den Düsseldorfern eine neue Welle von deutlich leichterer Musik aus – wie könnte es anders sein – Japan. In den Plattenläden der Altstadt wurde man bald gut mit dem fernöstlichen Sound, der oft live eingespielten Bossa Nova, Nu Jazz mit elektronisch gesampeltem Stückwerk mixte, versorgt. Meine persönlichen Favoriten waren das Soul Bossa Trio, Pizzicato Five, Towa Tei (Deee-Lite, s.o.) sowie die Releases von Bellissima! Records. Dieses Sub-Label von 株式会社トイズファクトリ passte mit seinen typografisch-sachlichen Covern sehr gut zur stilbewussten Szene. Begeistert vom smoothen Jazz/Trip Hop der Silent Poets gönnte ich mir zu Weihnachten 1994 ein im August erschienenes Album des mir bis dato unbekannten Musikers: Nobukazu Takemura (竹村延和).
Sein Debut Child’s View sollte sich für mich jedoch erst später als Glücksgriff erweisen. Zunächst war ich sprach- und ratlos, als ich die stilistisch überbordenen Arrangements des Kyotoer Multitalents in ganzer Länge zu hören bekam. Das Leitthema – die Welt aus Sicht eines Kindes – führte wie ein roter Faden durch das Album, ansonsten herrschte kreatives Chaos. Da wechselten sich Jazz und Downtempo-Instrumentals mit Bossa-Stücken ab, zuckersüße Melodien wurden von japanischem „Kindergesang“ voller Melancholie begleitet, hier ein Walzer, dort ein Reggae-Toasting, Triangel, Glockenspiel, Double Bass, der französische Rapper Ménélik gab sich kurz die Ehre, um Platz für drei nachdenkliche Schlusstracks zu machen. Wie zu erwarten, kam diese CD nicht besonders gut bei Freunden an. Sie avancierte gar zum Hassobjekt. Ich hingegen war fasziniert, ohne genau zu verstehen warum. Erst mit der Zeit – und damit sind die gesamten 25 Jahre seit der Veröffentlichung gemeint – habe ich begriffen, was dieses einzigartige Album ausmacht.
Es ist zum einen die unglaubliche Produktionstiefe, die Komplexität, bei der die echten Instrumente unzähliger Gastmusiker nicht mehr von gesampelten zu unterscheiden sind. Teilweise hat der damals erst 26 Jahre alte Komponist die Stücke derart filigran instrumentiert, dass man diese Nuancen erst beim mehrmaligen Hören wahrnimmt. Auf der anderen Seite ist mir inzwischen klar geworden: hier hat sich ein Ausnahmetalent und Musikliebhaber ohne Scheu, sozusagen schamlos, an die verschiedenartigsten Genres herangewagt und sie spielerisch, wie ein Kind, aber nicht respektlos, miteinander verwoben – eine Arbeitsweise, die u.a. typisch war für das japanische Mikrogenre Shibuya-kei. Als gereifter Mensch, verstehe ich nach nunmehr 25 Jahren auch, wieso mich die Musik damals so eigenartig ergriffen hat, denn trotz des von uns zelebrierten Erwachsenseins der 1990er Jahre, keimte vielleicht immer der heimliche Wunsch nach kindlicher Unbeschwertheit in uns – ein Sehnen, zurück nach unbedarften Tagen der 70er und 80er, als man einfach Musik hören (und machen!) konnte, wie man mochte. Während wir steif auf dem hohen Ross der vermeindlichen nonchalance ritten, feierten andere zu kindischen Abzählreimen Technoparties, hopsten zu Mo-Dos Ein-Zwei-Polizei fröhlich auf der Tanzfläche herum und hatten den Spaß ihres Lebens.
Nobukazu Takemura – Child’s View [1994]
Composed & Produced by Nobukazu Takemura
Tracklist:
00:00:00 Phases Of The Moon
00:05:59 For Tomorrow (Childlike Mix)
00:13:04 Ivory Tower
00:15:05 Searching
00:20:34 Another Root (Menelik’s Rap Mix)
00:24:33 Rill
00:29:40 Crescent (Monika’s Universe Mix)
00:34:52 The Future With Hope (Sample And Hold Mix)
00:37:23 Time And Space
00:39:15 Pastral Waltz
00:45:14 Ill At Ease
00:49:05 Let My Fish Loose
00:54:27 Science Fiction (Menelik’s Rap Edit Mix)
00:59:36 One Blue Moment (No Talk Remix)
01:04:26 Serene
01:09:05 The Lake Of Winter
Credits:
A&R [Producer] – Makoto Nakanishi
Acoustic Guitar – Kazushisa Uchihashi* (tracks: 1, 4, 6, 12)
Acoustic Guitar, Electric Guitar – Kohhei Osato*
Arranged By [Co-Arranged By], Other [Musical Advised By] – Toshiyuki Mori
Art Direction, Design – Kazuhiko Komoda
Double Bass [Sampled] – Hiroshi Funato
Drums [Sampled] – Yasuhiro Yoshigaki
Engineer [Japan Session Assistant] – Eiji Ohta, Eiko Ito, Manabu Urabe, Masayuki Nakano (2), Shigeo Sakurai, Takaoki Saito, Yuya Suzuki
Engineer [London Session Assistant] – Matt Howe
Engineer [Paris Session Assistant] – Hugues Tonal
Executive-Producer – Takamitsu Ide
Keyboards [Sampled] – Toshiyuki Mori
Mastered By – Masao Nakazato
Mixed By – Howie B* (tracks: 4, 7, 11, 12), Masashi Yabuhara (tracks: 2, 3, 6, 16), Tokehiko Kamada (tracks: 1, 5, 9, 13, 15)
Music By – Nobukazu Takemura
Percussion – Takero Ogata (tracks: 1, 2, 6, 7)
Photography By – Peter Williams (21), Pey Inada, Tajimax
Producer [Label] – Koji Inaba
Producer, Arranged By, Composed By – Nobukazu Takemura
Programmed By, Keyboards, Synthesizer, Sampler, Flute, Turntables, Tape – Nobukazu Takemura
Recorded By [Japan Session] – Masashi Yabuhara, Ohji Hayashi, Ryoichi Fukumoto, Takehiko Kamada
Recorded By [London Session] – Howie B*
Recorded By [Paris Session] – Philippe Zdar Ceboneschi*
Supervised By – Katsuhiro Hori
Words By – Kiku* (tracks: 1, 2, 6, 10, 12, 16), Maki Hiraga (tracks: 2, 3, 6, 10, 12, 15)
Text: © Hans-Christian Wichert
Titelbild „Another Summer II“: © Rafaela Wittmann
竹村延和-Abbildungen: © Bellissima! Records, Japan
Alle weiteren Abbildungen: © Triad International; For Life; Bomba Recordings; Bellissima!