Unfreiheit des freien Journalismus
Die freie Presse ist eine der wichtigsten Säulen der Demokratie. In der Welt ist sie nicht überall selbstverständlich. Zensur, Propaganda und Einseitigkeit manipulieren in vielen Ländern die Nachrichten. Und damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Um so mehr können wir in der „westlichen Welt“ darauf stolz sein, unseren Bürgern einen weitestgehend freien Journalismus garantieren zu können. Wir hegen ihn, wir pflegen ihn – in vielen demokratischen Industrieländern ist er gar verfassungsrechtlich geschützt. Dass er uns erhalten bleibt, ist unser aller Auftrag. Wir müssen achtsam sein und negative Einflüsse – d.h. Einflussnahmen – von ihm fern halten. Doch leider, so meine persönliche Einschätzung, gelingt uns das nicht. Klangheimlich hat sich bei Journalisten wie Publizisten eine fragwürdige Denk- und Arbeitsweise eingestellt, die mittlerweile zur ärgerlichen Routine geworden ist. Anders als in der Geschichte, ist dieser schleichende Prozess der Verschlechterung nicht von Außen angestoßen worden (ob das wirklich so ist, bleibt dringliches Thema zukünftiger Diskussionen). Schuld sind sie selbst, die Verlage, Reporter, Autoren und Nachrichtenhäuser.
Gemeint ist nicht der weltweit aufflammende Populismus, der mit reisserischen Headlines eigener News-Portale die freie politische Berichterstattung torpediert. Auch um die offenbar von gewissen Staaten lancierten fingierten Nachrichten (aka fake news) geht es nicht. Auch nicht um Lobbyismus. Ausnahmsweise ebensowenig um das altbekannte Dilemma eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Verlagen und großen Anzeigenkunden. Nein, das wirkliche Problem der Gegenwart ist die durch Klickraten und SEM/SEO beeinflusste Auswahl von Themen und die daraus folgenden Formulierungen.
Content und Clickrates
Am 4. September 2018 erschien in der Onlineausgabe der „Zeit“ ein Artikel, bei dessen Headline sich so mancher Leser die Augen gerieben haben dürfte. „Warum Trump kein Lügner ist“ lautet Thomas Assheuers Überschrift zu einem düsteren Profilbild des Präsidenten. Ausgerechnet eine Zeitung, die nach den US-Wahlen in mindestens 3 Artikeln pro Tag über Trump und seine Lügen berichtet hat, veröffentlicht so etwas Widersprüchliches? Keinesfalls. Wer diesen, zuvor auch in der Printausgabe (Nr. 36/2018) erschienenen Artikel gelesen hat, kennt das Fazit des Autors bereits: Donald Trump lügt wie gedruckt. Dass diese kritische Analyse in einer eher links-liberalen Zeitung zu erwarten, und die Headline ein journalistischer Kniff ist, war vorauszusehen. Dennoch ärgert mich – als langjährigen Abonnenten – das offensichtliche System, welches hinter derartigen Überschriften steckt. Nicht nur bei der „Zeit“ arbeitet der Online-Journalismus mit solchen Teasern, die den Leser triggern sollen. Das erhöht die Clickraten, die Page-Visits und Kommentare (früher: Leserbriefe). In dem oben genannten Beispiel geht es darüberhinaus darum, Paid-Content zu verkaufen, denn der Artikel ist nur für „Zeit+“-Leser zugänglich.
Schockierende Überschriften bringen Klicks, und mit Klicks werden die Löhne gezahlt. Das ist ein System, das sich selbst anheizt.
Testo (Zugezogen Masukulin), SPEX Nr. 378 | 01.2018
Inzwischen wird überall, selbstverständlich über die deutschen Grenzen hinaus, und regelmäßig mit derart penetrant „stimmungsmachenden“ Headlines gearbeitet, dass das Lesen keinen Spaß mehr macht. Da sich in diesen Zeiten schlechte Nachrichten gut verkaufen, wird auch auf intellektueller Ebene ein Pessimismus gepflegt, den man sonst nur vom Boulevard-Journalismus kannte. Mit ständig neuen oder pausenlos wiederholten Hiobs-Botschaften, soll sich der Leser permanent in seinen vom Zeitgeist geprägten Gefühlen bestätigt fühlen – ein Prinzip, das den sogenannten, dem Menschen psychologisch eigenen, Confirmation Bias bedient.
Confirmatory Bias und Clickbaits
Sich danach zu sehnen, für eigene Meinungen, Gefühle, Einordnungen eine externe Bestätigung zu finden liegt in unserer Natur. Das schafft emotionale Sicherheit durch gefestigte Orientierungspunkte in einem chaotischen Universum voller Informationen, die bewertet werden wollen. Angesichts dieser Hilflosigkeit sehnen wir uns danach, Partner zu finden, emotionale Leidensgenossen, die uns als „Mitstreiter“ begleiten. Das Internet mit seinem unendlichen Meinungsangebot und zahlreichen Kontaktmöglichkeit erscheint uns deshalb wie ein Paradies der Soforthilfe. Doch müssen wir wachsam sein und prüfen, wem wir virtuell die Hand reichen, um uns die Welt erklären zu lassen. Wie im echten Leben lauern Betrüger, Scharlartane, Sektierer, Ideologen und Missionare darauf, unsere Schwächen auszunutzen. Mit ihren Versprechungen versuchen sie uns auf falsche Fährten zu locken. Dieses Ködern und Fischen bezeichnet man als Clickbaiting. Typisch dafür sind Artikelaufmacher, die einen psychologisch geradezu dazu „zwingen“ auf den Link zu klicken. Dies funktioniert am besten in Kombination mit Bildern, die zudem oft manipuliert werden. Zum Glück stehen dahinter nur selten verbrecherische Absichten – zumindestens im direkten Sinne (z.B. Malware oder Phishing). Eher geht es den Betreibern darum, fragwürdige, bisweilen auch illegale, Inhalte zu verbreiten und neue Leser zu gewinnen. Auf diese Weise sollen Ideologien oder ähnliche Dogmen in unser tägliches Informationsbewusstsein geschmuggelt werden. Wer allerdings unbekannten Quellen gegegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt ist, wird solche Tricks schnell durchschauen. Schwerer wird es, Seiten einzuordnen, die teilweise automatisch Texte/Artikel generieren, welche sie aus den tagesaktuellen Medien regelrecht aufsaugen. Diese Seiten folgen nur einem Prinzip: dem des kapitalistischem Wettbewerbs. Denn hohe Klickraten rechtfertigen den Verkauf preisintensiver Bannerwerbung.
Ist die freie Presse wirklich frei?
Selbstverständlich verfolgen die großen Zeitungen, inklusive der eingangs erwähnten „Zeit“ keineswegs böse Absichten. Nach wie vor stehen sie im Sinne freier Berichterstattung für die Aufklärung der Leserschaft ein. Auch die intellektuelle Qualität ist beständig, obgleich sich der allgemeine Jargon stark an das Internetzeitalter angepasst hat. Im Zuge der Digitalisierung müssen auch die Verlagsanstalten um ihr Bestehen kämpfen, das liegt auf der Hand, nur sollten sie sich beizeiten fragen, ob sie sich mit den gewählten Methoden – Teasern und Triggern – nicht zu sehr vom o.g. Confirmation Bias abhängig machen. Wenn der hunderste Trump-Artikel erscheint, nur weil die Leser danach lechzen, muss man sich fragen, ob für die Presse nicht eigentlich das Gegenteil wahr ist, nämlich dass Donald Trump das beste ist, was ihnen je passieren konnte. Wenn Texte solange zurechtgebogen werden, bis jedes denkbare Buzzword untergebracht ist, macht sich der Qualitätsjournalismus obsolet und zudem abhängig von den Suchergebnissen. Hashtag-Junkies gibt es schon genug in den Sozialen Medien. Und wenn nur noch am Zeitgeschehen herumgemäkelt wird, weil sich Bad News so gut verkaufen, jeder Schuld ist, alles Krebs erzeugt, der Wald stirbt und die Welt untergeht, leben wir endgültig in der Diktatur des Defätistischen. Wollen wir das wirklich?
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Text: © Hans-Christian Wichert
Titelbild „Gewitter 2012“: © H.C.Wichert