Telemedizin: Gedanken zur Fernbehandlung per Internet [1]


Einführung

Der Deutsche Ärztetag in Erfurt traf in der vergangenen Woche einen weitreichenden Entschluss. Ärzte in Deutschland dürfen Patienten künftig auch ohne vorherigen persönlichen Kontakt in der Praxis ausschließlich per Telefon, SMS, Messaging-Dienst, eMail oder Online-Chat (z.B. via Skype®) behandeln. Voraussetzung ist, dass die ärztliche Sorgfaltspficht bzgl. Diagnostik, Beratung, Therapie und Dokumentation eingehalten wird. Ferner sind die Patienten (vorher?) über die Telemedizin (Online-Behandlung) aufzuklären. Nach diesem, vor- wie hinterher kontrovers diskutierten Beschluss des Ärztetages ist Medizinern nun „im Einzelfall“ eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über digitale Medien möglich, wenn dies medizinisch vertretbar ist. Mit einer ausschließlichen Fernbehandlung durch digitale Medien werden bisherige Instrumente der Telemedizin ergänzt. Dazu gehören zum Beispiel Telekonsile zum Online-Austausch von Befunden oder Röntgenbildern, die elektronische Übermittlung von Patientendaten bei Hausbesuchen durch Praxisangestellte zum Arzt oder die bisher nur für einige Fachgruppen und bei bestimmten Erkrankungen erlaubten Videosprechstunden. Nach dem Grundsatzbeschluss des Ärztetages müssen die Landesärztekammern nun die regionalen Berufordnungen entsprechend anpassen.

[1] Automatisierung durch Künstliche Intelligenz

Machen wir uns nichts vor. Die ausschließliche Telemedizin mit ihrer Ferndiagnostik und -therapie ist nicht bloß ein Schritt der Modernisierung, mit dem der althergebrachte Weg medizinischer Hilfe verlassen wird. Die Nutzung der sich rasant entwickelnden Kommunikationsmedien für die Interaktion zwischen zwei Menschen – hier: zwischen Patient und Mediziner – ist nicht nur konsequent und nötig für die Medizin der Zukunft, sie ist vielmehr von grundlegender Bedeutung für die Automatisierung dieser. Mit fortschreitender Nutzung von zukünftig (nahezu) fehlerfreien computerunterstützten Diagnose- und Übertragungstechniken wird das menschliche Leistungspotential auf ärztlicher Seite immer mehr an Bedeutung verlieren – so weit, dass es keinen vernünftigen Grund mehr geben wird, dem Urteilsvermögen der „Mensch-Mediziner“ zu vertrauen. Dieser ist, im Vergleich zum „ärztlichen Roboter“ ziemlich störanfällig. Seine Leistung schwindet in punkto Konzentration mit den Faktoren Zeit und Belastung, wodurch letztlich das Risiko fehlerhafter Diagnosen und Therapieempfehlungen steigt. Ein Medizin-Programm hingegen kann problemlos 24/7 arbeiten. Folglich wird eine Ära anbrechen, in der das Risiko menschlicher Fehler sowohl aus medizin-ökonomischen, als auch aus humanen Gründen untragbar sein wird.

Die Realität, auf die Telemedizin bezogen, wird unsere kühnsten Vorstellungen noch bei weitem übertreffen. Künstliche Intelligenz wird unsere Gesundheit prüfen, bewerten und ggf. sogar überwachen. Wir werden technische Gerätschaften im Haus haben, die eine umfassende Analyse unseres Gesundheitszustandes erlauben, wohlmöglich ein kleines handliches Kombi-Instrument, das Blutdruck misst, Blutwerte ausliest, EKGs und sogar EEGs erstellt. Die gewonnenen Daten können live an den zugeschalteten Medizin-Bot übertragen werden, woraus automatisch – unter Einbeziehung vorhandener Patientendaten, Behandlungsprotokolle, Anamneseaufzeichnungen etc. – eine diagnostische Erstauskunft erstellt wird. Zusätzlich sind datenbankgestützte Rezept-Ausstellungen, Krankschreibungen sowie Überweisungen denkbar. In Kombination mit automatisierter Bilderkennung, Datenübertragung für forensische Zwecke und Qualitätskontrolle, sind dies absolut realistische Vorstellungen. Nur in einer Übergangsphase wird es Menschen mit einer medizinischer Ausbildung überlassen sein, die genannten automatisierten Prozesse abschließend zu bewerten und deren Beurteilungen zu bestätigen. Schon bald darauf wird sich dies auf die reine Überwachung der Automatismen beschränken. Und auch dies wird hinfällig werden, sobald eine Kontrolle der computerbasierten Expertise durch andere Computer sinnvoller erscheint.

Die Vorstellung, „Medizin per Knopfdruck“ abrufen zu können, erscheint uns heute noch unheimlich. Allerdings: wie nah wir dieser Zukunftsvision bereits gekommen sind, zeigt sich in anderen Bereichen des Lebens. Längst folgen wir den durch Algorithmen bestimmten Empfehlungen des Internets, mit denen z.B. Kaufanreize im Bereich Online-Shopping induziert werden. Computer-Bots mit menschlichem Anlitz (Avartar) oder angenehmer Stimme (Siri®, Alexa® oder Google Duplex®) beantworten tiefgreifende Fragen auf intelligente Weise. Auch sind sie in der Lage komplizierte Prozesse anzustoßen, beispielsweise bei der logistischen Retourenverwaltung von Internet-Shops. Bei der Bildung von Meinungen vertrauen wir – oft ohne es zu merken – auf die Aussagen künstlicher, nicht-realer Teilnehmer in Internet-Diskussionen. Jüngste Erkenntnisse haben gezeigt, dass für politische Propaganda massiv automatisierte Beiträge (Chat-Bots)verbreitet werden. Die Debatte um solche Fake News verdeckt leider die positiven Aspekte der technischen Möglichkeiten. Andererseits zeigt sich dadurch auch: In Wirklichkeit hat die oben geschilderte Zukunft schon begonnen und es obliegt uns allein, eine positive Nutzung der Automatisierung zu forcieren bzw. den Missbrauch dieser zu verhindern.

Vorausgesetzt, es werden tatsächlich Telemedizintechniken mit künstlicher Intelligenz entwickelt, welche auch flächendeckend einsetzbar sind, stehen dem Einsatz von Medizin-Bots also vorallem ethische Bedenken im Wege. Soll eine Maschine (allein) über unsere Gesundheit entscheiden? Eine Maschine, die unzählige Arbeitsplätze im Gesundheitswesen vernichten wird? Eine Maschine, die dem Willen ihrer Programmierer gehorcht, weshalb die wahren Absichten letzterer permanent aus humanistischer, moralischer Sicht geprüft werden müssten? Gäbe es sozusagen einen Hippokratischen Eid für Roboter?

Aus meiner Sicht, wird einer der wichtigsten Diskussionspunkte die grundsätzliche Definition von Gegenwartsmedizin sein. Was genau bedeutet allgemeinmedizinische Versorgung heute, insbesonders in dem Bereich, für den der Ärztetag die Telemedizin vorsieht, den Hausarzt? Je mehr wir über diese Frage nachdenken und darüber diskutieren, desto mehr wird uns gewahr, dass der Hausarzt neben einer medizinischen Grundversorgung vorallem auch psycho-soziale Hilfe bereitstellt. Einen großen Anteil seiner Leistung nimmt das Gespräch ein. Die mündliche Beratung ist in Wirklichkeit aber nur zu einem geringen Teil rein medizinischer Natur. Vielmehr beruht der Heilungsprozess offensichtlich zu einem kaum bestimmbaren Teil auf Empathie, Verständnis, Geduld oder Anteilnahme im Gespräch – dem „sich Zeit für den Patienten nehmen“. Der Hausarzt erfüllt somit auch Aufgaben abseits von Lehrmeinung und konservativer Therapie. Die Bewertung der Leistungen aus Sicht beider Seiten ist ziemlich eindeutig: Patienten gilt derjenige Hausarzt als „der beste“, welcher sie erfolgreich behandelt und ihnen vertrauensvoll zuhört, ihnen also gefühlt ausreichend Zeit widmet. Es liegt auf der Hand, dass dieses Gefühl nicht allgemeingültig beziffert, geschweige denn als Parameter in einer Programmierung festgelegt werden kann. Auf Seiten der Leistungsträger bzw. der Ärzte, sind die für diese Grauzonen des Praxisalltags aufgewendete Zeiten kaum mit Abrechnung, Budgetierung und Auslastung zu vereinbaren. Vermutlich begreifen (und fördern) Krankenkassen die Telemedizin als Chance, solchen unökonomischen Zeitaufwand auszulagern, einfach, um den Praxisalltag zu entlasten bzw. die Abrechnung weiter zu rationalisieren. Ob der „normale“ Patient damit einverstanden sein wird, ist die eine Frage. Die andere wird sein, ob Künstliche Intelligenz jemals in der Lage ist, Empathie in der Patientenbetreuung zu simulieren.


Bitte lesen Sie zu diesem Thema auch meine nachfolgenden Beiträge.

[2] Entgrenzung und Globalisierung
[3] Aufgaben für die Zukunft


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Text: © Hans-Christian Wichert

Titelbild: „HAL9000“ © – In dem Science-Fiction-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltall“ (R: Stanley Kubrick, 1968) überwacht der sprechende (und sehende) Bordcomputer HAL9000 auch die Gesundheit der Besatzungsmitglieder. Berühmt, und für viele beängstigend, ist die Szene, in der er einem Astronauten rät, ein Beruhigungsmittel einzunehmen: „Ich merke dass du sehr aufgeregt bist, ich gebe dir einen guten Rat, du solltest dich eine Weile hinlegen, eine Beruhigungstablette nehmen und dir die Sache nochmal überlegen.“

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