VirtualRealityDeluxe™


Reale Musik aus virtuellen Welten. Eine Analyse.

VirtualRealityDeluxe (nachfolgend: VRD) ist ein emsiger Vaporwave-Produzent, der für seine Releases, konzeptorientiert wie kaum ein anderer, den unbändigen Zukunftsoptimismus der 80er einfängt, die musikalischen Zeugnisse dieser Zeit aufbohrt und als ausschnitthafte Simulakren einer hedonistischen Hochkultur wiedergibt. Histologische Schnitte des Happy Consumerism. Kurze Alben als akustische Rekursion, die über das emotionale Erlebnis eines trivialen Revivals hinausgeht. Das unbeschwerte Jahrzehnt mit seiner von Roland, DX7 und brodelnen Minimoogs befeuerten Popmusik scheint hier nie untergegangen zu sein im späteren War against Terror. Die Twin Tower symbolisieren nach wie vor den Welthandel. Glitzernde Wahrzeichen eines freikapitalistischen Babylons, in dem sich eine weiße Stretchlimo mit Bumerangantenne durch den nächtlichen Verkehr gen Midtown schiebt, vorbei an roten Revlon-Billboards, während auf den schwarzledernen Rücksitzen ein Louis Roederer geköpft wird. White Zin für die leichten Damen. Auf dem Discman: eine aphrodisierende line von R&B-Tracks – bester Soul und Funk, auf CD gepresst, gestreckt mit dem zuckersüßen Pop-Schmelz der Yuppie-Ära.

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Die Reproduktion des American Dream als musikalische Traumreise – demnach also die Simulation einer damals schon nur simulierten Lebensrealität, welche durch den Konsum von in ihrem Wert abstrakt überhöhten Objekten optimiert wurde – gestaltet VRD nicht mit eigenen Kompositionen, sondern genretypisch mit umfangreichen Samples aus jener Zeit. Größtenteils werden ganze Passagen alter Songs zitiert, wobei die Stücke neu gemastert, verlangsamt und teilweise dekonstruiert oder durch neue Retro-Sounds (!) ergänzt werden. Diese Arbeitsweise erreicht in ihrer Verschachtelung von Neu und Alt einen ungeahnt hohen impact, durch den Original und Rearrangement für den Hörer nicht mehr scharf zu trennen sind. Die dadurch mögliche Wirkung entspricht somit ganz dem (musikalischen) Prinzip der Performativity (Jean-François Lyotard), bei der maximaler Output durch minimalen Input erreicht wird. Zwar geht der Produzent nicht soweit, wie im Subgenre Mallwave üblich, die Musik mittels Hall- und Echoeffekten (lt. Jean Baudrillard „Effekte ohne Ursache“) gezielt an einen bestimmten Ort (Mall) zu versetzen, VRDs kurze Alben wecken jedoch auch ohne dies genügend „falsche“ Erinnerungen, um während des Hörens Zeit und Raum aufzulösen. Wie weitreichend der emotionale Effekt dieser Musik ist, zeigt sich auch daran, dass die Mehrzahl der VRD-Fans die 1980er/1990er nicht selbst erlebt hat. Mit seinen bescheidenen Mitteln ermöglicht VRD diesen “Unwissenden” trotzdem emotionale Zeitreisen in unbekannte Welten. Für das diffuse Gefühl – jenes Gänsehaut-Feeling, welches uns manchmal mal beim Lauschen alter Musik (z.B. Glenn Millers „Moonshine Serenade“) oder Betrachten alter Schwarz-Weiß-Bilder überkommt, hat John Koenig im Rahmen seines Projekts The Dictionary of Obscure Sorrows den anschaulichen Begriff Anemoia („Nostalgia for a time you’ve never known“) erfunden. Vaporwave im allgemeinen und VRD im speziellen nutzen dieses psychologisch bislang kaum erforschte Phänomen geschickt aus, in dem sie virtuelle Erinnerungen wecken, welche den jüngeren Hörern eigentlich gar nicht innewohnen. Dies ist ein beeindruckendes Zeugnis der Baudrillard’schen Auflösung von relevanter Wirklichkeit: Durch die unscharfe Trennung von Bezugspunkt und Repräsentation erlebt der Hörer nicht nur transtemporale Autosuggestion, sondern auch Deterritorialisation. Diesen ursprünglich von Baudrillard 1988 beschriebenen Effekt erklären Tara Brabazon und Steve Redhead (Charles Sturt University, Australia) in ihrem Essay „Baudrillard in Drag: Lady Gaga and the Accelerated Cycles of Pop“ (Americana Journal, 2013) wie folgt: „a consumer’s body could be located in Detroit in the US or Dubbo in Australia, but through popular culture it enters the imagined spaces of Warhol’s (or [Lady] Gaga’s) New York City“. Bei VRD gelingt dies aufgrund der Sampleauswahl sowie der technischen Verfremdung (Verlangsamung der Abspielgeschwindigkeit) besonders gut – vorausgesetzt der „Konsument“ ist empfänglich für die übertrieben ästhetisierte Popkultur der Eighties und generell bereit, sich von musikalisch verpackten Erinnerungen entführen zu lassen.

The Teens who listen to ‘Mallwave’ are nostalgic for an experience they’ve never had

H. Kesvani (2019)

Hussein Kesvani zitiert in seinem gleichlautenden Artikel im MEL Magazine u.a. Grafton Tanner, der in seinem vielbeachteten (für meinen Geschmack etwas zu pessimistischen) Buch „Babbling Corpse: Vaporwave and the Commodification of Ghosts“ erkannt haben will, dass es sich bei dem Genre nur um eine mäßig neue Spielart des „nostalgischen Triggerns“ handelt, welches als Marketing-Tool im Zeitalter interaktiver, sozialer Medien perfektioniert wurde. Er ignoriert dabei allerdings die völlig unbedeutende Position von Vaporwave im globalen Musikbusiness. Darüberhinaus ist dieses Micro Genre ein reines Internet-Phänomen, dem man aufgrund belangloser Umsatzzahlen kaum eine „Monetarisierung von Erinnerungen“ vorwerfen könnte. Interessanter wäre es vielleicht, Vaporwave als gutes Beispiel von Disintermediation zu erkennen. Der Künstler organisiert Produktion (Sampling, Mix, Mastering), Vertrieb (Filesharing, Downloads), Release (Tapes, Vinyl, CD, Diskette) selbst und kommuniziert (z.B. auf Reddit) auf direkten Wegen mit seinen Konsumenten. Anstatt Vaporwave lediglich im üblichen Retroallerlei zu verorten, sollte man diese Sozialisierung der Musik, bzw. die Überwindung althergebrachter Strukturen in der Medienindustrie, zumindestens würdigen.

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Laut Tanner führt die permanente Sehnsucht nach Vergangenem und die durch Vaporwave betriebene Zelebration eigentlich negativer Phänomene wie z.B. Kapitalismus, Neoliberalismus, Hedonismus und Narzissmus dauerhaft zur Idealisierung der Geschichte. Die seiner Meinung nach damit betriebene Verfälschung von Erinnerungen, begünstige langfristig die Romantisierung schrecklicher Zeiten durch Verkitschung, was er – leider wenig glaubhaft – durch Hinweise auf Randergeignisse wie Trumpwave/Fashwave zu belegen versucht. Ohne Frage birgt (auch) Vaporwave hinsichtlich der von ihm befürchteten Verklärung gewisse Risiken. Allerdings: Würde man diese Betrachtungsweise auf alle musikalischen Werke anwenden, so müsste beispielsweise auch die Musik des Mittelalters kritisiert werden, in der der Minnesang ebenfalls nur eine geschönte, lyrische Realitätdarstellung anbietet. Grafton Tanner stellt Vaporwave außerdem in einen politischen Kontext. Junge Hörer könnten sich gemäß dem altbekannten Credo „früher war alles besser“ einer mindestens konservativen Ideologie zuwenden. Hierfür gibt es meines Erachtens nach keine Belege und abgesehen von den Versuchen der alt-right-Bewegung, elektronische Musik zu kapern, keine Anzeichen. Überhaupt wird die angeblich negative Wirkung bestimmter Musikstile (siehe z.B. Black Metal, Goth, Emo usw.) seit Jahrzehnten ergebnislos diskutiert. Nachweise dafür, dass das Hören bestimmter Bands und ihrer Stücke das menschliche Handeln aktiv beeinflusst, existieren nicht. Lediglich in der Psychologie sind sowohl eine positive (Motivationssteigerung/Beruhigung) als auch eine negative Wirkung (Verstärkung klinischer Depressionen) anerkannt. Grundsätzlich kann bei labilen Menschen jedes Medium ein Verstärker sein. Primäre Ursache für etwaige Folgen bleibt jedoch die Labilität. Korrelation und Kausalität dürfen hier nicht verwechselt werden.

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„Kunst ist, was man draus macht“

Vaporwave muss sich vorwerfen lassen, es bestünde lediglich aus verzerrten („chopped and screwed“) Samples und absichtlich trashigen Grafiken. Kritiker monieren nicht nur den eklatanten Mangel an Eigenkompositionen – auch die für dieses Musikgenre so wichtige Ästhetik bediene sich schamlos an den Kreationen anderer. Tatsächlich ist die Liste stilistischer Einflüsse lang: Seapunk, die Neon- und Pastellfarben der 80er, Grafiken von Patrick Nagel, das violette Licht der 90er, Manga-Art sowie die Strich-/Polygongrafiken von Synthwave oder Tron. Ingesamt ließe sich das alles, inklusive der Musik, als Retro oder Retrokitsch der Zeit von 1980 bis 1995 zusammenfassen. Warum allerdings ausgerechnet dieses Mikrogenre, welches ursprünglich sowieso nur ein harmloses Internet-Meme war, in heutiger Zeit vom Feuilleton als „Plünderung“ und Geschmacklosigkeit wahrgenommen wird, entzieht sich meinem Verständnis. Vielleicht ist den Kritikern nicht bewusst, wie fest wir uns, spätestens seit 2010, im Griff der uneingeschränkten Reproduktion befinden? Am Beispiel der gegenwärtigen Mode lässt sich das gut nachvollziehen. Alles ist schon einmal da gewesen. Die Fashiondesigner kopieren heute das, was gestern schon Gianni Versace, Olmes Carretti (Best Company) oder Elio Fiorucci für ihre Labels aus allen möglichen Epochen zitiert hatten. Bereits in der Pop Art wurden bestehende Ideen „gesampled“, um sie in einem neuen Zusammenhang bzw. in veränderter Form darzustellen. Andy Warhol bediente sich Waschmittelpackungen und Suppendosen, Jeff Koons kopierte Minnie Mouse und Popeye, Damien Hirst goss einen toten Hai in Acryl. Diese Variationen des endlosen Recyclings waren und sind also nichts neues. Sie gehören im hochtechnisierten neuen Jahrtausend inzwischen zum kreativen Prozess – auch wenn das die Urheber oder Rechteinhaber freilich anders sehen. Ohne die juristische Problematik der Samplingkultur – die meisten Vaporwave-Künstler bevorzugen es aus gutem Grund absolut anonym zu bleiben – relativieren zu wollen: Bei der Betrachtung von Vaporwave als mögliche, moderne Kunstform sollte der Fokus nach meinem Dafürhalten eher auf die Auswahl der Samples gelegt werden und darauf, was damit kreiert wird. Anstatt über das „wie“ zu lamentieren, lohnt es sich, das „was“ näher zu betrachten – insbesonders bei VRD.

Last night a DJ saved my life

Vergleicht man Sampling mit der Malerei, den samplenden Künstler mit einem Maler, wäre Musik die Leinwand und die Samples das Motiv, das Sampling an sich aber Farbe und Pinsel. Wie das Aufbringen von Farbe auf Leinen mittels Pinsel, ist der technische Vorgang des Musikkopierens von einfacher Natur. Jedes Kind kann malen, sobald es den elementaren Vorgang des Farbtransfers verstanden hat. Ebenso ist heutzutage jeder mittels diverser Softwarelösungen in der Lage, Songs zu digitalisieren und zu bearbeiten. Doch erst das Wissen um Technik, Komposition und vorallem die vorherige Auswahl eines guten Motives/Samples macht künstlerisches Schaffen möglich. Unabhängig von der ewigen Diskussion, was nun Kunst sei und was nicht, können moderne Hilfsmittel (Digitales Malen am Computer/Samplingsoftware) ein nach objektiven Kriterien akzeptables Werk nicht garantieren. Zwar zeigt sich in der Populärmusik, dass mit guten Ausgangsquellen – z.B. James Browns Funky Drummer oder Stücke von Bob James – relativ einfach Hits zu produzieren sind, allerdings muss der Schaffende über eine gute Musikkenntnis verfügen und, ferner, sich der möglichen Anwendung/Wirkung eines Samples vorher bewusst sein.

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Der Prozess von Suche, Auswahl und Nutzung geeigneter Musikstücke ist im Prinzip eine digitale Fortführung der klassischen Aufgaben eines Discjockeys. Ein DJ (im ursprünglichen Sinne) stellt vor seinem „Auftritt“ ein Set zusammen, mit dem er meint, das Publikum auf die (der) Tanzfläche bewegen zu können. Die Setlist stellt dabei einen Konsens aus erprobten Evergreens, aktuellen Hits und eigenen Ideen dar, sie erfordert demnach Erfahrung sowie eine persönliche Note. Diese Individualität kann nicht nur durch die Auswahl bestimmter Geheimtipps, sondern auch durch eine bestimmte Reihenfolge der Titel, die ggf. ineinander gemixt werden, beeinflusst werden. VRD – dem ich im übrigen unterstelle als DJ tätig zu sein – wendet exakt dieses Vorgehen bei jeder seiner Veröffentlichungen an, welche somit in gewisser Weise als Konzeptalben zu verstehen sind. Für seine thematisch grob umrissenen EP-Titel wie z.B. „Secret Love Affair“ (Juni 2018), „Summer In The City“ (Januar 2018), „Holiday Romance“ (Mai 2018), „Midnight Silence“ (Januar 2018) oder „Spirits Of Fire“ (Februar 2019) – insgesamt sind das typischerweise musikalische Narrative, die von Liebe, Urlaubsstimmungen, Luxus, sexuellem Begehren, aber auch von Melancholie oder unerfüllter Liebe erzählen – sammelt er in der Regel 6 bis 8 Musikstücke, die durch Verfremdung, Mix und Anordnung aus seiner Sicht eine thematisch passende, „spürbare“ Schilderung temporärer Gefühlszustände erschaffen. Die Erzeugung der adäquaten Emotionen beruht, anders als beim Originalsong, nicht auf lyrics, sondern einzig auf der Musik, welche durch ihren eindeutig identifizierbaren 80er/90er-Sound nostalgische vibes transportieren. Die Entkernung der Musikstücke durch digitale Wiederholung von Instrumentalparts (loop), der Verzicht auf Textpassagen – es verbleiben lediglich einige catch-Phrasen – sowie die Hervorhebung besonderer Songteile (intro, climax, solo, break, fill-in) erinnert ebenfalls deutlich die Arbeitsweise eines DJs. Schon vor dem Durchbruch des Hip Hops haben Discjockeys Songs durch manuelles Mixing zweier gleicher Platten künstlich in die Länge gezogen, um die Tanzenden bei Laune zu halten oder, wie die Dub-Pioniere Lee „Scratch“ Perry oder „King Tubby„, in andere Sphären zu katapultieren. Gegen Ende der Disco-Ära wurde das Prinzip des Remix auch von den Produzenten vieler Plattenfirmen aufgegriffen, die in Folge z.T. legendäre Maxi-Singles produzierten.

Beispiele für klassische 12-Inch-Remixe
A: Grace Jones – La Vie En Rose | M: Extended | P: Tom Moulton | R: 1977
A: Soft Cell – Tainted Love | M: Extended | P: Mike Thorn | R: 1981
A: FGTH – Relax | M: New York | P: Trevor Horn | R: 1984
A: Propaganda – Duel | M: Bitter Sweet | P: Trevor Horn | R: 1985
A: Paul Hardcastle – 19 | M: Final Destruction | P: dito | R: 1985
A: Falco – Rock Me Amadeus | M: Salieri Club | P: Bolland & Bolland | R: 1985
A: Phil Collins – In The Air Tonight | M: Extended Version | P: Ben Liebrand | R: 1988
 

Neben den trivialen Versuchen einiger Labels, mittels liebloser Langversionen ihre Verkaufszahlen zu steigern, gab es in den 1980er-Jahren eine Reihe wirklich gut rekonstruierter 12″-Releases. Produzenten, die sich der potentiellen Wirkung von Remixen in den Clubs bewusst waren, überarbeiteten die Tracks dementsprechend grundlegend, bis hin zum totalen Rearrangement der Originalspuren. Dies geschah vorallem, um den Club-DJs die Möglichkeiten zu geben, eigene „heiße“ Live-Versionen zu erschaffen. Der damit entstehende Kult um rare Remixe und Plattenreleases (teilweise als bootlegs) heizte den Umsatz langfristig mehr an als schlecht gemachte edits. Einer, der es besonders gut verstand, zu diesem Zweck aus bestehenden Songs mehr herauszukitzeln war Trevor Horn (ZTT). Als er 1984 seine Arbeiten am Mix für die Maxi-Version von „Relax“ (Frankie goes to Hollywood) abgeschlossen hatte, erkannte Horn während eines Besuchs der Paradise Garage in NYC plötzlich, worauf es bei einer Extended Version wirklich ankommt. „I went to this club and heard the sort of things they were playing that I really understood about 12-inch remixes.“ Er kehrte in sein Londoner Studio zurück und erstellte einen vollkommen neuen Remix, mit dessen Hilfe sich „Relax“ sofort als weltweiter Club-Hit des Sommers ’84 etablieren konnte. Trevor Horn hatte begriffen, dass für den Clubmix elementare Instrumentalpassagen hervorgehoben und repitiert werden müssen. Statt des klassischen Intros baute er den Remix Spur für Spur auf, wodurch sich die Instrumente langsam zu einem Höhepunkt verdichteten. Diese Steigerung endete im eigentlichen Song, den die Clubbesucher ggf. bereits vom Radio-Edit kannten. Im Fall von „Relax“ sollte der ekstatische Spannungsbogen den promiskuitiven Charakter des Songs mit seinen unmissverständlichen Lyrics widerspiegeln, andere Extended-Versionen hingegen verstärkten die emotionale Tiefe der von Hörern manchmal als viel zu kurz empfundenen Vorlage. Ein vortreffliches Beispiel für einen solchen Remix ist die Extended-Version von „Say Hello Wave Goodbye“ (Soft Cell, 1982), einer traurigen Abschiedsballade, die um ein langes Klarinettensolo von Dave Tofani ergänzt wurde.

There’s not a problem that I can’t fix
Cause I can do it in the mix

Indeep (1982)

Für seine konzeptionellen EPs fertigt VRD gleichsam Remixe an – ganz im Sinne virtueller 12″-Versionen. Wie sehr seine Technik der des althergebrachten Tonspur-Remixes gleicht, demonstriert als Beispiel „Candlelit Dinner“ (EP: sunset boulevard 日没), bei dem er die Vorlage „Rock wit’cha“ (Bobby Brown, 1988) weitgehend von Chorus und Strophen befreit hat, um die bass- und synthesizergesättigten Instrumentalparts in die Länge zu strecken. Unter anderem haben auch Waterfront Dining x 猫 シ Corp. („Rock Wit’cha„) oder 猫 シ Corp. x Patrol1993 („Congratulatory Message„) den R&B-Klassiker gesampelt, VRD’s Version gefällt mir persönlich besonders gut, da Teile der Strophen beibehalten wurden, was dem Track (noch) mehr Stamina verleiht. Insgesamt ist die Bearbeitung durch VRD technisch ausgefeilt. Insbesonders die cuts, loops und das timing beim Rearrangement sind in weiten Teilen so perfekt umgesetzt, dass nur ein direkter Vergleich mit dem Original verrät, was im Detail verändert wurde. Natürlich sind die meisten Songs in gewohnter Vaporwave-Manier gechopped, d.h. im Tempo verlangsamt, und digital remastert, damit sie zeitgemäß fetter klingen.

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Last Exit Birmingham

Laut eigenen Angaben ist VRD aus Birmingham (UK). Doch ob das wirklich wahr ist, weiß man nicht. Was weiß man schon, heutzutage, im Internetzeitalter? Was ist reale, was virtuelle Identität? Da wären zum Beispiel die cover seiner Releases, die in ihrer Machart sehr an Waterfront Dining (Toronto, CA) erinnern. Auch bei den Samples gibt es auffällige Überschneidungen. Ist das alles nur Fan-Art – VRD zeigt sich auf Twitter oft begeistert von den Alben des Kanadiers – oder sind beide ein und die selbe Person? Wird wohlmöglich bereits digitalisiertes Material von (s)einem Alter Ego nach anderem Gusto aufgearbeitet? Denkbar wäre auch, dass beide in Wirklichkeit Vito James sind, der sowieso schon unter 60 verschiedenen Pseudonymen Musik veröffentlicht. Andererseits: Lässt man solche steile Thesen außer acht, wäre Vaporwave made in UK ein interessanter Aspekt.

Pop-Musik aus England/GB war selbst in den frivolen 1980er-Jahren nicht gerade bekannt für unbeschwerte Happyness, was offensichtlich der wirtschaftlichen Lage des Königreichs in Zeiten von Thatcherism und Austerität geschuldet war. „England prevails!“ rief die eiserne Premierministerin einst, und die Jugendkulturen der Insel namen sie auf ihre Art beim Wort. Rotzfreche bis radikale Musik, Texte, aus denen Hass, zynischer Humor sprühte oder todtraurige Perspektivlosigkeit tropfte, formten eine akustische Kontrakultur, die weitgehend von einer frustrierten, aber doch stolzen Working Class geprägt und getragen wurde. Anders als in den USA, wo die gesellschaftlichen Trennungen durch das freiliberale Grundkonzept („Vom Tellerwäscher zum Millionär“) ständig verwischt wurden, definierte sich im UK der 80er aller Hedonismus durch demonstrative Zugehörigkeit zu einer Klasse und durch Selbstverwirklichung in den relativ klar assoziierten Jugendbewegungen (Punk, Mod, Skinhead, Waver, New Romantic etc.). Begünstigt durch die Insellage, braute sich dort, bis in heutige Zeiten, ein brodelndes Gemisch aus eigenen, vergleichsweise unabhängigen Sounds zusammen, ständig befeuert von Konflikten (allgemeine gesellschaftliche Umbrüche, Cold War, Falkland Krieg, Nordirland Konflikt usw.). Lediglich das 1979er Mod-Revivals und die Vorliebe der Modernists für italienische Motorroller, den Continental Look und Northern Soul lenkten den Blick Weniger über den Tellerrand. Im urbanen Umfeld entstanden von Zeit zur Zeit leichtere Musikgenres, wie beim Sophisticated Pop von Spandau Ballet zum Beispiel, bei den jazzigen Avancen von Matt Bianco oder später mit der Easy-Listening-Bewegung der 90er-Jahre. Der Erfolg jedoch war insgesamt vorwiegend international. In der Breite fanden sie inländisch kaum Gehör. Betrachtet man die britischen Charts dieser Zeit, lässt sich das gut nachvollziehen. Hinzu kam, dass die damals erzkonservativen Medien, allen voran die BBC, im Fernsehen starken Einfluss darauf hatten, was für Musik die Bürger zu hören bekamen. Unabhängigere Formate wie z.B. Granada TV aus Manchester oder John Peel im Radio, legten dagegen Wert auf ein Programm abseits vom poppigen Mainstream. Underground und britische Produktionen dominierten dadurch den musikalischen Eskapismus, der in anderen Ländern durch eine wesentlich buntere, schillernde Popkultur betrieben wurde. Erst spät, gegen Ende des Milleniums wurde vermehrt ausländischer (vorallem US-amerikanischer) Pop konsumiert, wodurch positive, „seichte“ Strömungen auch bei den UK-Produzenten und -Plattenbossen (z.B. Stock/Aitken/Waterman) Gehör fanden. Bis zum Second Summer of Love 1989 allerdings, fand der Eskapismus in GB oft auf handfeste Weise statt. Ausgerechnet die Casuals, eine Hooligan-Subkultur der englischen Fußballstadien, waren für lange Zeit die einzigen, welche den sonst in allen Industrieländern grassierenden Markenfetischismus in UK zelebrierten und sich zudem gegenüber globalistischen Musikstilen wie Jazz-Funk oder Electro-Funk offen zeigten. Gleichzeitig waren sie als Football Thugs verschrien und gesellschaftlich geächtet, was eine Kommerzialisierung ihrer (unter Vorbehalt) popper-ähnlichen Bewegung für lange Zeit verhinderte.

Erst als Ende der 80er mit House Music, Acid House und Rave der Drogenkonsum (vorwiegend MDMA, Ectasy) die testosterongesteuerte Gewalt unter Jugendlichen auflöste, fanden „buntere Farben“ Zugang zum Mainstream. Doch auch wenn danach die englische Musik der 1990er-Jahre ein Allerlei verschiedenster Musikrichtungen und Revivals präsentierte: noch immer durchzogen negative Schwingungen die Produktionen. Um Acid wurde es schnell düster. Trip Hop und Jungle/Drum&Bass erzählten vom harten Leben in Hochhausvierteln. Dubstep oft von Horrortrips auf Shrooms. Heute schildern beim Grime 12-jährige aus Blackpool ihr tristes frühpubertäres Dasein oder Bands wie die Sleaford Mods und Idles machen Musik der Non-Working-Class. Um so erstaunlicher ist es, dass nun mit VRD ein britischer Künstler – ausgerechnet aus Birmingham, der zweitgrößten Stadt Englands mit dem Anti-Charme von Rüsselsheim – daherkommt, um der zuckerwattigen Vaporwave-Muzak zu huldigen. Musik, die nicht nur an vergangene Zeiten erinnert, sondern auch an eine Realtität, die es so in UK nie wirklich gegeben hat.

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Discography: Sämtliche VirtualRealityDeluxe Alben sind in digitaler Form bei Bandcamp erhältlich. Einige sind auch bei DMT Tapes FL verlegt worden, so z.B. die Compilation Sun CD gemeinsam mit opal東京, ll nøthing ll, Floridamphetamine. Die Compilation Oceanic Vacation ’98 (feat. バーチャル Paragon™, VITO蒸気の波を行います, おかげ Magician) erschien auf VCR Recordings. Sporadisch wurden bei Vito James (DMT Tapes FL) auch Audiokassetten veröffentlicht. Das Album Oasis ist exklusiv bei Palm ’84 erschienen.


 

Text © Hans-Christian Wichert
Titelbild „Virtual Vinyl Album“ © H.C.Wichert
Abbildung „Virtual Tape“ © H.C.Wichert
Bildkomposition „VR Mann“ © H.C.Wichert
Bildkomposition „80s Palms“ © H.C.Wichert
Bildkomposition „Sea of Dreams“ © H.C.Wichert
Abbildung „Vinyl Sleeve“ © Adobe Stock | #174755543 | Urheber: peshkova
Abbildung „Virtual Reality“ © Intel Corp.
Abbildung „Palms“ © Adobe Stock | #229616734 | Urheber: Summer Candy
Abbildung „Rock wit’cha“ © 1987 by MCA Records
Abbildung „PC-Monitor“ © Adobe Stock | #212083354 | Urheber: splitov27

Please note: All releases shown above are purely fictional. They don’t exist. They are virtual reality. Deluxe.